Freitag, 22. November 2013
gedankenmaler, 22:29h
Worin ich Nietzsche nicht zustimme:
1. Dass Hoffnung etwas grundsätzliches Negatives sei.
(Und das ist für mich das erste wirklich schwerwiegende Argument dafür, in ihm den "Antichrist" zu sehen – ohne dies werten zu wollen, versteht sich...)
2. Dass die Entstehung von Moral (gut und böse) nicht als Ableitung von "nützlich" und "schädlich" zu erklären sei.
(Ich halte dies für eine gute Erklärung, wenn vielleicht auch nicht erschöpfende.)
3. Dass Mitleid nicht als edel, wertvoll oder gut zu betrachten sei, sondern eher als ein Irrweg.
Nietzsches Kritik und Einwand ist bei all diesen Punkten (vor allem 1 und 3) willkommen, denn manch einer hat dringend eine gewisse Korrektur nötig. Aber ganz über Bord schmeißen will ich den Wert des Mitleids und der Hoffnung nicht.
Vielleicht fehlt es mir ja an geistiger Höhe, und ich werd in Zukunft noch drauf kommen, dass Nietzsche eigentlich Recht hatte, aber es kann ja auch andersrum sein...
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Mit Bezug auf sein Werk Die Genealogie der Moral. Vorrede. 6. Kapitel:
Er stellt die Moral in Frage, die moralischen Werte, die moralischen Werturteile. Er hinterfragt auch, welchen Wert es hat, solche Werte überhaupt zu haben...
Mein Einwand: Es ist für mich inkonsequent, hier aufzuhören. (Er setzt einfach das Leben und seine Entfaltung als höchsten Wert. Er tut das so extrem unkritisch, dass ich mich frage, ob er dies vielleicht sogar mit Absicht macht.) Meiner Meinung nach kann man genauso gut weiter fragen, ob es überhaupt irgendetwas gibt, das "von Wert" ist, das ganze Leben eingeschlossen. Moral, die Unterscheidung von gut und böse / schlecht ist dann ja nur das Folgeprodukt. Hat man überhaupt Werte, hat man Ideen oder Dinge, die wertvoll sind, hat man auch eine Moral. Man hat nur dann keine Moral mehr, wenn es überhaupt nichts mehr gibt, das "von Wert" ist.
Noch weiter fragen tue ich aber nicht mehr; ich halte es für aussichtslos zu hinterfragen, wie es kommt und wie es kam, dass der "liebe Gott" nicht nur irgendetwas "Seiendes" geschaffen hat, sondern auch gleich noch das "Bedeutsame", das "Große", das "Schöne", das "Heilige", ohne die das bloße Sein etwas blass wäre, selbst wenn wir es uns angefüllt denken mit allerlei Annehmlichkeiten, Spaß und Drogenräuschen. Wasimmer diese "Dinge" auch für den einzelnen sind, sie sind ein Bestandteil des Erfahrungsraum des Menschen. Als Erfahrungsqualitäten sind diese Dinge objektiv vorhanden.
Im übrigen kann ich Nietzsches Feldzug gegen die Moral sehr gut verstehen. Er meint das, was Gurdjieff als Antwort gab, auf die Frage hin, warum in seinem spirituellen System keine Morallehre zu finden sei:
"Wir brauchen keine Moral, was wir brauchen ist das Gewissen."
Hier wird "Moral" für meinen Geschmack zwar auch zu stark verstoßen, aber es wird doch deutlich, was gemeint ist. Für mich ganz offensichtlich geht es um das Verhältnis von Verstand und Herz (=Sein). Moral ist das eher außen gelegene Endprodukt aus standardisierten Regeln, das häufig auch mal ein Eigenleben führen und sich gegen das eigene Herz wenden kann. (Oder das von Anfang gewaltsam von außen eingegeben und mit Angst in der Seele fixiert wurde.) Das Gewissen sitzt etwas tiefer im Sein.
Natürlich kann und muss man hier auch die alte Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sein, Fühlen und Denken stellen. Welche Seite ist Ursache und welche ist Wirkung? Oder ist gar beides gleichermaßen und abwechselnd Ursache und Wirkung? Was ist wirklich spontan und echt in uns? Was ist dagegen nur angelernt und konditioniert? Und wie tief wirken die Konditionierungen?
Manchmal schlägt das Gewissen ja nur deswegen aus, weil wir an entsprechende Wertungen ganz tief und fest glauben. ... Und wer das jetzt als Abwertung des Gewissens und der Intuition versteht – ja, warum will er es so verstehen? Für mich ist dies eher eine Bekräftigung meines Standpunkts, dass wir ein kleines bißchen "Moral" durchaus brauchen. Wir sollten sie nur selbst etwas stärker in die Hand nehmen (so, wie wir auch den Verstand und das Sein in die Hand nehmen sollten).
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Der eigentliche Skandal und das eigentliche Problem im Umgang mit Moral ist die Ausnutzung der allgegenwärtigen, kriecherischen Angst im Menschen. Viele Menschen scheinen mir (oder sind es alle?) die Angst vor einer Verurteilung ihres Seins ständig "auf Lager" zu haben. Ein Richter könnte daherkommen und mit der scheinbar objektiven Kraft seines Hammers das eigene Sein zu etwas Schlechtem und Minderwertigen erklären. Und davor verkriechen wir uns nur allzu gern. In den großen Religionen kommt es leider vor, dass dieses Kriechtum noch gefördert wird. Die Selbständigkeit der Seele und des Verstands wird nicht gefördert, sondern gehemmt, was eine schlechte Voraussetzung dafür ist, die großen, edlen Charakterzüge authentisch aus sich selbst heraus zu entfalten. Liebe, Mut, Ehrlichkeit, Großzügigkeit, Gelassenheit, Herzlichkeit, Humor und was man hier noch anführen könnte, wachsen nur sehr begrenzt in einer unter Krämpfen leidenden Seele.
Sehr bedenklich ist es, dass wir in der Regel nicht nur Richter und wahre bzw. eingebildete Autoritäten fürchten, sondern bisweilen auch die Urteile von Mitmenschen, die wir eigentlich auf einer niedereren Seinsstufe wähnen. Es zeigt, dass das eigene Sein kaum vorhanden ist... ("Angst ist Seins-Schwäche.")
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Meine Vorstellung von objektiver Moral (von den einzig wahren Richtlinien für den einen objektiven Richter Gott, wenn man so etwas überhaupt sagen darf):
Objektive Moral berücksichtigt zuallererst (bzw. ausschließlich) die subjektive Absicht. Wer in "guter Absicht" / "gutem Willen" handelt und tragischerweise Schaden anrichtet, ist genauso "gut" wie jemand der mit dem gleichen Maß an guter Absicht ein Segen über die Welt bringt. (Gott kann die Reinheit der guten Absicht bis ins letzte Detail ausloten.)
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Beschwerden über die Tragik der möglichen und bisweilen himmelweiten Diskrepanz zwischen guter Absicht und guter Wirkung sind an den lieben Gott zu richten. Ich habe dafür keine Antwort.
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Wahrheit, Erkenntnis, Freiheit, Mut.
[Wer meint, ich verstehe Nietzsche vollkommen falsch, der melde sich bitte.]
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gedankenmaler,
Samstag, 23. November 2013, 15:08
Aber was bringt es schon, einem Nietzsche zu widersprechen? Ich habe den Eindruck, er ist an manchen Stellen eben auch nur ein Gedankenmaler (ein "Versucher" wie er sicher sagen würde) und gibt aus Prinzip vor allem dort gerne ein Kontra, wo die Herde es sich gerade am gemütlichsten gemacht hat.
Du glaubst an den Wert der Hoffnung? Aus eigener Kraft oder weil Du es nachplapperst? Nietzsche will die unechten Gedanken wegwischen. Nicht, dass das seine einzige Motivation ist, aber bezüglich der Hoffnung glaube ich es, denn er hofft doch selbst auf etwas, oder nicht? Natürlich kann auch die Grobheit der Sprache zu diesem scheinbaren Widerspruch führen.
Um ehrlich zu sein: so genau will ich mich jetzt gar nicht damit befassen...
Du glaubst an den Wert der Hoffnung? Aus eigener Kraft oder weil Du es nachplapperst? Nietzsche will die unechten Gedanken wegwischen. Nicht, dass das seine einzige Motivation ist, aber bezüglich der Hoffnung glaube ich es, denn er hofft doch selbst auf etwas, oder nicht? Natürlich kann auch die Grobheit der Sprache zu diesem scheinbaren Widerspruch führen.
Um ehrlich zu sein: so genau will ich mich jetzt gar nicht damit befassen...
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gedankenmaler,
Sonntag, 1. Dezember 2013, 22:46
Nietzsche. Jenseits von Gut und Böse. Zur Naturgeschichte der Moral. 188
Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die »Natur«, auch gegen die »Vernunft«: das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müßte denn selbst schon wieder von irgendeiner Moral aus dekretieren, daß alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesentliche und Unschätzbare an jeder Moral ist, daß sie ein langer Zwang ist: um den Stoizismus oder Port-Royal oder das Puritanertum zu verstehn, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht –des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wieviel Not haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht! – einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein unerbittliches Gewissen wohnt – »um einer Torheit willen«, wie utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, – »aus Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze«, wie die Anarchisten sagen, die sich damit »frei«, selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Tatbestand ist aber, daß alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden gibt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und Überreden, in den Künsten ebenso wie in den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der »Tyrannei solcher Willkür-Gesetze« entwickelt hat; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, daß gerade dies »Natur« und »natürlich« sei – und nicht jenes laisser aller! Jeder Künstler weiß, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein »natürlichster« Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblicken der »Inspiration« – und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulierung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges –). Das Wesentliche, »im Himmel und auf Erden«, wie es scheint, ist, nochmals gesagt, daß lange und in einer Richtung gehorcht werde: dabei kommt und kam auf die Dauer immer etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit – irgend etwas Verklärendes, Raffiniertes, Tolles und Göttliches. Die lange Unfreiheit des Geistes, der mißtrauische Zwang in der Mitteilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wiederzuentdecken und zu rechtfertigen – all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde: zugegeben, daß dabei ebenfalls unersetzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden mußte (denn hier wie überall zeigt sich »die Natur«, wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und gleichgültigen Großartigkeit, welche empört, aber vornehm ist).
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